Drei Dichter ihres Lebens: Casanova. Stendhal. Tolstoi by Stefan Zweig
Autor:Stefan Zweig [Stefan Zweig]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2012-02-29T23:00:00+00:00
Selbstdarstellung
»Qu’ai-je été? Que suis-je?
Je serais bien embarrassé de le dire.«
[Was bin ich gewesen? Was bin ich?
Ich wäre äußerst verlegen, es zu sagen.]
[Stendhal, ›Vie de Henry Brulard‹]
Für seine erstaunliche Meisterschaft der Selbstdarstellung hat Stendhal keinen andern Lehrmeister als sich selbst gehabt. »Pour connaître l’homme il suffit de s’étudier soimême: pour connaître les hommes il faut les pratiquer« [Um den Menschen zu erkennen, genügt es, sich selbst zu studieren: um die Menschen zu erkennen, muß man sie einsetzen], sagt er einmal und fügt sofort bei, die Menschen kenne er nur von Büchern her, alle seine Studien habe er einzig an sich selbst unternommen. Immer geht Stendhals Psychologie von ihm selber aus. Immer zielt sie einzig auf ihn selbst zurück. Aber in diesem Weg rund um ein Individuum ist die ganze Seelenweite des Menschlichen umschlossen.
Den ersten Schulgang der Selbstbeobachtung macht Stendhal in seiner Kindheit durch. Verlassen von der frühverstorbenen Mutter, die er leidenschaftlich liebte, sieht er nur Feindliches und Fremdgeistiges rings um sich. Er muß seine Seele verleugnen und verstecken, daß man sie nicht bemerke, und lernt früh mit dieser ständigen Verstellung »die Kunst der Sklaven«, zu lügen. In die Ecke geduckt, stumm, verschlossen vor diesen groben, bigotten Provinzlern, in deren Kreis er sich versehentlich hineingeboren fühlt, nutzt er die Zeit seines Schmollens und Grollens, den Vater, die Tante, den Lehrer, alle seine Quäler und Herrscher zu belauschen, und der Haß schleift seine Blicke zu grimmiger Schärfe; immer macht ja jede Einsamkeit den Menschen wachsamer gegen sich und die andern. So lernt er, in Kinderkleidern noch, bösartig aufpassen, mitleidslos entlarven, neugierig nachschleichen, all die defensiven Schliche des Unterdrückten, diese »Sklavenkünste« des Abhängigen, der in jedem Netz die Masche sucht, durchzuschlüpfen, an jedem Menschen seine Schwäche, kurzum er wird, ehe in seinem weltlichen und sachlichen Studium, kundig in psychologicis, durch notgedrungene Gegenwehr, durch den Zwang seines Mißverstandenseins.
Der zweite Kursus des so gefährlich Vorgebildeten dauert länger, eigentlich sein ganzes Leben lang: die Liebe, die Frauen werden seine hohe Schule. Man weiß längst – und er selbst leugnet das melancholische Faktum nicht –, daß Stendhal als Liebhaber kein Heros war, kein Eroberer, kein Sieghafter und am wenigsten der Don Juan, als den er sich gern zu kostümieren pflegte. Mérimée berichtet, Stendhal nie anders als verliebt gesehen zu haben, leider fast immer unglücklich verliebt. »Mon attitude générale était celle d’un amant malheureux« [Mein allgemeiner Zustand war der eines unglücklich Liebenden] – fast immer hatte ich Unglück in der Liebe, muß er eingestehen und sogar dies, »daß wenig Offiziere der Napoleonischen Armee so wenig Frauen besessen hätten wie er«. Dabei haben ihm sein breitschulteriger Vater, seine warmblütige Mutter eine sehr drängende Sinnlichkeit vererbt »un tempérament de feu« [ein glühendes Temperament], und unablässig lodert sein Blick den Frauen nach. Aber wenn auch sein Temperament ungeduldig jede prüft, ob sie für ihn »ayable« [!] sei, und er in seiner Brieftasche sorglich verwahrt das Rezept eines Regimentskameraden herumträgt, wie man eine Tugend am besten vergewaltige, und er bramarbasierend einem Freunde, der ihn nach seiner Meinung fragt, welcherart man am besten eine
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